„Das Projektkonsortium hat gemeinsam den Mut gefasst: Wir experimentieren jetzt mit Arbeitszeiten“, erklärt Lena Marie Wirth, die gemeinsam mit ihren Kolleginnen Laura Schröer und Silke Völz den INQA-Experimentierraum „Pflege:Zeit“ am Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen wissenschaftlich begleitete. Die Sozial-Holding Mönchengladbach, die sieben Altenheime betreibt, wagte sich gemeinsam mit dem Forschungsinstitut und dem Beratungsunternehmen MA&T an eine zentrale Frage: Wie kann Arbeitszeit in der Pflege so gestaltet werden, dass sie zu verschiedenen Lebenssituationen passt und gleichzeitig die Bedürfnisse der Beschäftigten erfüllt?
Die Pflege steht vor großen Herausforderungen
Die Ausgangslage ist ernst: Durch die Alterung der Gesellschaft wächst die Zahl pflegebedürftiger Menschen kontinuierlich an, während gleichzeitig entsprechende Pflegefachpersonen fehlen. „Es sind eigentlich immer weniger Fachleute, die immer mehr Leute versorgen müssen“, beschreibt Wirth die Situation. Besonders herausfordernd ist, dass viele qualifizierte Pflegefachpersonen – oft Frauen, die Betreuungsaufgaben für Kinder oder andere Familienverpflichtungen übernehmen – nur in Teilzeit arbeiten können.
Der INQA-Experimentierraum „Pflege:Zeit“ sollte genau hier ansetzen: die Zufriedenheit von Pflegefachpersonen mit ihrer Arbeitszeit verbessern und das Unternehmen widerstandsfähiger gegen Krisen machen. Im Fokus stand dabei auch die Arbeits- und Versorgungsqualität der Bewohner*innen sowie die Wirtschaftlichkeit des Betriebs.
Drei betriebliche Experimente, ein Ziel: Arbeitszeit passend zur Lebenssituation
Der INQA-Experimentierraum entwickelte systematisch drei verschiedene Ansätze:
Zwei Wohnbereiche und das Nachtdienst-Team testeten eine eigenverantwortliche Dienstplanung im Team. Alle Mitarbeitenden konnten ihre Wünsche eintragen – das System musste anschließend aufgehen. „Das war eine voraussetzungsvolle Aufgabe“, gibt Wirth zu. Gerade in größeren Teams mit vielen verschiedenen Dienstzeiten entstanden zunächst Konflikte – nach Anpassungen funktionierte das System jedoch gut, besonders in der Nachtwache mit ihren gleichförmigen Schichten.
Das dritte Experiment entwickelte systematische Lösungen für kurzfristige Personalausfälle. Hier wurden alle Mitarbeitenden in Teambesprechungen eingebunden und konnten ihre Wünsche für flexible Vertretungsregelungen einbringen.
Alle wirken mit: Von Pflegefachpersonen bis zu Bewohner*innen
Ein Schlüssel zum Erfolg war die umfassende Einbindung aller Beteiligten. Der INQA-Experimentierraum verfolgte bewusst einen vielschichtigen Ansatz: Führungskräfte, Beschäftigte und Interessenvertretungen entwickelten gemeinsam die Maßnahmen. Sogar die Sichtweise der Bewohner*innen floss ein, um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
Führungskräfte lernen loslassen: Weniger kontrollieren, mehr ermöglichen
Parallel zu den Testphasen erhielten Führungskräfte spezielle Schulungen zum Aufbau resilienter Führungsstrukturen. Besonders herausfordernd war der Rollenwandel: Führungskräfte mussten lernen, mehr Verantwortung abzugeben und „mehr Unsicherheit auszuhalten“, sagt Wirth. So erhalten Mitarbeitende mehr Souveränität bei der Schichtplanung. Dieser Wandel von der direkten Steuerung hin zu mehr Mitbestimmung erwies sich als entscheidend für den Erfolg.
Übertragbare Ergebnisse: Leitfäden für andere Einrichtungen
Aus allen drei Experimenten werden Aspekte auch nach der Projektzeit fortgesetzt. Das Projektteam hat die Erkenntnisse bereits in der Broschüre „Arbeitszeitgestaltung in der stationären Pflege“ veröffentlicht, die erste Lösungsansätze und ein systematisches Vorgehen zur Arbeitszeitflexibilisierung aufzeigt. Eine weitere Broschüre zur Methodik ist in Vorbereitung. Die Übertragung erfolgt nicht als Standardlösung für alle, sondern ermutigt andere Einrichtungen zum eigenen Ausprobieren: „Man muss lernen, wie die Projektergebnisse zur eigenen Organisation passen“, sagt Wirth.
Fairness im Blick: Wer profitiert von mehr Flexibilität und Souveränität?
Eine wichtige Erkenntnis des INQA-Experimentierraums betrifft die faire Verteilung der neuen Möglichkeiten: „Immer, wenn bestimmte Vorteile vergeben werden, kommen bei denen, die nicht davon profitieren, Fairness-Fragen auf“, reflektiert Lena Marie Wirth. Unternehmen müssen bewusst entscheiden, ob sie individuelle Lösungen für bestimmte Gruppen schaffen oder systematische Veränderungen über Betriebsvereinbarungen einführen.
„Eine Regelung über Betriebsvereinbarungen ist sehr transparent, alle dort benannten Beschäftigtengruppen können profitieren und es gibt weniger Ärger“, empfiehlt die Forscherin. Wichtig sei eine klare Entscheidung darüber, „wer welche Flexibilitäts-Möglichkeiten bekommt“.
Fazit: Mut zum Experimentieren macht Pflege attraktiver
„Das zentrale Lernergebnis ist dieser Mut zu sagen: Wir probieren jetzt mal neue Arbeitszeiten aus“, fasst Wirth zusammen. Die Methodik sei „wirklich sehr einfach zugänglich – das kann jeder machen“. Entscheidend sei, gleichzeitig die Arbeitsqualität für Beschäftigte und die Versorgungsqualität für Pflegebedürftige im Blick zu behalten, ohne die Wirtschaftlichkeit zu gefährden.
Die Sozial-Holding Mönchengladbach plant bereits die interne Ausweitung auf weitere Einrichtungen. Das Forschungsteam arbeitet daran, die Erkenntnisse auf andere Organisationen zu übertragen und die entwickelten Konzepte weiterzuentwickeln. „Wir sind überzeugt, dass das notwendig ist“, so Wirth, „weil man auf Dauer nur durch innovative Arbeitszeitgestaltung mehr Personen in größerem Umfang beschäftigen und das Berufsfeld für Fachkräfte attraktiver machen kann.“