Herr Dr. Richter, immer mehr Menschen bleiben länger im Job als sie müssten. Zwischen 2010 und 2019 hat sich die Zahl der sogenannten Silver Worker sogar verdoppelt. Kann man hier von einem Trend sprechen?
Es ist schwer zu sagen, ob man das bereits einen Trend nennen kann. Für eine valide Aussage bräuchte es weitere Untersuchungen. Sicher ist, dass es heute eine größere Gruppe von Menschen gibt, die weiterarbeiten, wenn sie das Renteneintrittsalter erreicht haben. Natürlich gibt es Menschen, die aus finanziellen Gründen weiterarbeiten müssen. Wer über entsprechende Ressourcen verfügt, hat hingegen die Wahl. Hier wird dann der Dreiklang Können, Wollen, Dürfen relevant.
Wie sieht dieser Dreiklang konkret aus?
Da ist zunächst die Frage nach dem Können: Wie ist mein Gesundheitszustand, wie sind meine Kompetenzen? Das zweite ist das Wollen, sprich die Motivation: Kann mir die Arbeit etwas geben, was mir Freude bereitet? Kann ich zum Beispiel an einem interessanten Vorhaben mitwirken, meine Fähigkeiten einbringen und Neues lernen? Und drittens: Gibt es für mich noch Verwendung? Darf ich überhaupt weiterarbeiten?
Im Umkehrschluss heißt das: Nicht jede*r kann, will oder darf im Alter arbeiten. Welche Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Branchen und Berufsgruppen?
Für eine Studie wurden Menschen zwischen 53 und 59 Jahren gebeten, einzuschätzen, wie lange sie noch arbeiten können. Dabei unterschieden sich die Angaben verschiedener Berufsgruppen deutlich. Ärztinnen und Ärzte schätzten zum Beispiel, durchschnittlich vier Jahre länger arbeiten zu können als Beschäftigte in der Krankenpflege. Das bietet interessante Rückschlüsse auf die Arbeitsbedingungen.
Und wie sieht es im Handwerk und im Dienstleistungssektor aus?
Beim Thema Dienstleistung wird oft an Bürotätigkeiten gedacht. Dabei gibt auch in diesem Sektor Berufe, die eine schwere körperliche Arbeit mit sich bringen. Nehmen Sie zum Beispiel die Paketzustellung oder den Bereich Reinigung – hier kommen ältere Menschen schnell an ihre körperlichen Grenzen. Leider fehlt es vielen Führungskräften und Personalverantwortlichen von Betrieben im Dienstleistungssektor noch am notwendigen Wissen über gesunde Arbeitsgestaltung. Anders sieht es in der Industrie aus. Und auch im Handwerk gibt es vielfach gute Kenntnisse, wie man Arbeit so gestalten kann, dass die Mitarbeitenden lange und gesund arbeiten können.
Welche Rolle spielt die Größe des Unternehmens?
Es gibt große Unternehmen wie zum Beispiel die Deutsche Bahn, die sich in diesem Bereich sehr engagieren. Kleine Betriebe schneiden bei Befragungen zu Maßnahmen für alters- und alternsgerechtes Arbeiten hingegen oft schlecht ab. Das muss aber nicht heißen, dass man dort nicht auch motiviert und gesund lange arbeiten kann. Im Gegenteil: In kleinen Betrieben gibt es oft ein großes Wissen über die Vorlieben, Stärken und Schwächen der Mitarbeitenden, und das wird beim Personaleinsatz auch berücksichtigt. Aber man würde das in diesen Betrieben nicht als Maßnahme zur alters- und alternsgerechten Arbeitsgestaltung begreifen.
Was können Unternehmen tun, um Silver Worker im Betrieb zu halten?
Es ist ein wichtiges Kennzeichen von gesunder Arbeitsgestaltung, dass die Beschäftigten Handlungsspielräume erhalten. Dass sie also nicht immer das Gleiche machen müssen und Zeiten zur Erholung haben. Verschiedene Arbeitszeitmodelle sind wichtig, aber auch Feedback und Wertschätzung durch die Führungskräfte. Sich weiterentwickeln zu können und nicht abgekoppelt zu sein vom Fortschritt, das ist ebenfalls eine wichtige Motivation für viele Silver Worker. Die Möglichkeit zur Fortbildung ist daher ein weiterer wichtiger Punkt. Und damit meine ich nicht nur offizielle Schulungen, sondern auch die Option, bei Kolleginnen und Kollegen nachfragen zu können, wenn man etwas nicht verstanden hat oder noch nicht beherrscht.
Inwiefern profitiert unsere Gesellschaft davon, wenn Menschen länger in Arbeit bleiben?
Natürlich profitiert die Deutsche Rentenversicherung, wenn Menschen länger arbeiten und weiter ihre Beiträge leisten. Außerdem haben wir einen großen Bedarf an Arbeitskräften: Wir brauchen letztlich jede und jeden. Viele, die im Alter weiterarbeiten möchten, wünschen sich mehr Autonomie bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Wenn wir es hinbekommen, Arbeit so zu organisieren, dass eine größere Flexibilität für jede und jeden Einzelnen dabei herauskommt, profitiert die Arbeitskultur insgesamt.
Haben wir bereits eine alters- und alternsgerechte Arbeitswelt erreicht oder ist das noch eine Zukunftsvision?
Was das Schaffen von Möglichkeiten für ältere Beschäftigte angeht, könnten wir noch viel flexibler werden, und damit dazu beitragen, dass sie länger in Arbeit bleiben. Und von dem, was für die Älteren jetzt gut ist, profitieren auch die Jüngeren. Es lohnt sich daher für Unternehmen, in Maßnahmen der gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung zu investieren. Insofern ist das keine Zukunftsvision, sondern eine Gegenwartsaufgabe.