Eine wandlungsfähige und reaktionsschnelle Unternehmenskultur wird im Zeitalter der Digitalisierung zunehmend entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg. Doch wie kann dieser Kulturwandel gelingen? Vor dieser Herausforderung stehen viele Unternehmen. Denn sie stellen fest: Klassische Hierarchien und das Arbeiten in „Silos“ funktionieren in der heutigen Arbeitswelt immer weniger. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits hat die Digitalisierung vollkommen neue Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung geschaffen. Andererseits bringen die Beschäftigten zunehmend veränderte Wertvorstellungen mit ins Berufsleben. Arbeit soll sinngebend sein, Freiräume und Eigenverantwortung bieten. Unternehmen müssen sich deswegen umstellen, denn die Stimme der Belegschaft hat Gewicht. Bereits heute suchen viele Unternehmen händeringend Nachwuchs und in den kommenden Jahren wird der Fachkräftemangel weiter zunehmen. Das Beispiel der Otto Group zeigt, wie der Prozess des Kulturwandels funktionieren kann.
Kulturwandel als Motor für eine erfolgreiche digitale Transformation
Um zukünftig erfolgreich am Markt bestehen zu können und der rasenden Veränderungsgeschwindigkeit der Digitalisierung zu begegnen, läutete die Otto Group Ende 2015 den Prozess „Kulturwandel 4.0“ ein. Nach eingehender Analyse war sich das Unternehmen sicher: Um das Potenzial der Unternehmensgruppe in Zeiten der Digitalisierung voll auszuspielen, braucht es eine veränderte Mentalität. Eine Antwort darauf soll der Kulturwandel liefern. Dabei werden etablierte Arbeits- und Verhaltensweisen, Geschäftsprozesse sowie Denkmuster radikal hinterfragt. Es geht darum, den Mitarbeiter*innen größere Freiräume zu ermöglichen, eine veränderte Fehlerkultur zu etablieren und Entscheidungswege zu vereinfachen. Das weltweit agierende Handels- und Dienstleistungsunternehmen mit 30 Unternehmensgruppen möchte weg von Top-down hin zu mehr Selbstverantwortung der Beschäftigten. Werte wie Transparenz, Vernetzung und Mut will der Konzern aktiv fördern.
10 Learnings aus 5 Jahren Kulturwandel bei der Otto Group
Mit der Entscheidung der Familie Otto und des damaligen Vorstands, die Unternehmenskultur neu aufzustellen, war auch klar: Der Kulturwandel ist ein strategisches Handlungsfeld für den Konzern. Der Prozess wird offen und partizipativ gestaltet und hat kein definiertes Ende. So wird er bis heute gedacht. Das gemeinsame Grundverständnis dabei lautet, Abschied zu nehmen von lieb gewonnenen Gewohnheiten, Unsicherheiten auszuhalten und den Mut zu haben, Neues zu wagen. Das öffnet Raum für Veränderungen und Ideen, die die Chancen der Digitalisierung nutzen.
Der Vorstand hat sich selbst auferlegt, alle seine bisher lieb gewonnenen Verhaltens- und insbesondere Entscheidungsweisen radikal zu hinterfragen und Veränderung sichtbar vorzuleben. Das strahlt auf Beschäftigte und Führungskräfte ab und motiviert sie, den Wandel mitzugestalten.
Hierarchien sind als strukturgebendes Element weiterhin nötig, wurden aber neu gedacht. Die „allwissende Führungskraft“ gibt es nicht mehr. Klassische Führungsrollen wurden auf mehrere Führungsaufgaben in funktionsübergreifenden Teams aufgeteilt. Laterale Führung, das heißt Führen ohne Weisung, und voneinander lernende Teams können sich entwickeln.
Wer in einer sich ständig verändernden Welt gestalten will, muss Unsicherheit aushalten können. Um die Chancen der Digitalisierung zu ergreifen, braucht es deshalb: Mut. Mut, Dinge zu verändern und Prozesse umzugestalten. Wie ausgeprägt dieser Mut ist, hängt stark von der persönlichen Haltung ab – und der Fehlerkultur im Unternehmen.
Es liegt in der Natur der Dinge, Fehler zu machen. Wichtig ist daher, den Beschäftigten Mut zuzusprechen, Neues auszuprobieren, sich einzumischen, Ideen zu äußern und Innovationen zu entwickeln. Dafür wurden ganz verschiedene Formate entwickelt, unter anderem ein „Mut-Festival“ oder „Fuck-up-Nights“.
Kulturwandel funktioniert, wenn die Mitarbeiter*innen erleben, dass sie selbst mitgestalten können. Gleich zu Beginn des Prozesses wurden die Beschäftigten zu „Workstreams“ eingeladen. In interdisziplinären, hierarchie- und firmenübergreifenden Arbeitsgruppen wurden dort die großen Veränderungsthemen gemeinsam in Angriff genommen. Der Kulturwandelprozess wurde Top-down und Bottom-up zugleich verankert.
Die einzelnen Konzernfirmen werden durch ein zentrales „Kulturwandel 4.0“-Team begleitet, befähigt und vernetzt. Zudem dient das Intranet mit einem Kulturwandel-Blog als zentraler Anlaufpunkt für neue Ideen, die gemeinschaftlich vorangetrieben werden. Inzwischen gibt es dort über 400 Workhacks und Methoden, wie der Kulturwandel aktiv gelebt werden kann.
Die Otto Group gibt keine fertigen Maßnahmen für die rund 50.000 Beschäftigten weltweit vor, es gibt keinen „One size fits all“-Ansatz. Jede Konzerngesellschaft muss sich mit dem Kulturwandel beschäftigen, hat aber große Freiheiten bei der Geschwindigkeit und Ausgestaltung. Lokale Kulturwandelteams helfen bei der Umsetzung.
Weniger Silodenken, mehr übergreifende Zusammenarbeit: Damit Beschäftigte eigenverantwortlicher arbeiten können, braucht es die Haltung und die technischen Voraussetzungen, Wissen zu teilen. Formate wie unternehmensweite „Remote Learning Days“ oder Communitys fördern den Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer zwischen den Mitarbeiter*innen.
Um den „Kontrollverlust“ im Rahmen des Kulturwandels zu bewältigen, braucht es neue Formen der Zusammenarbeit und Führung. Dazu gehören Transparenz als Grundhaltung im Unternehmen sowie eine Kommunikation, die auf Vertrauen basiert, die Erfolge und Hindernisse gleichermaßen benennt.
Der Kulturwandel hat ausdrücklich keine klare Zielvorgabe, sondern ist ein fortwährender Lernprozess, der sich konstant weiterentwickelt. Fehler werden dabei als Erfahrungswerte gesammelt und untereinander ausgetauscht. Das Unternehmen verzichtet bewusst darauf, ein Enddatum für den Prozess zu nennen.