Herr Bostelmann, die meisten Menschen haben zwar schon einmal von Achtsamkeit gehört, aber dennoch nur eine diffuse Vorstellung davon. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Ich finde es erst einmal wichtig, den Begriff zu demystifizieren. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit bewusst zu regulieren, in einer Haltung der Offenheit, der Neugierde und der Annahme. Noch einfacher formuliert: Achtsamkeit bedeutet präsent sein und die Umgebung bewusst wahrnehmen: Was fühle ich gerade? Was denke ich? Was passiert gerade? Ich kann Achtsamkeit üben, indem ich in der Meditation meinen Atem beobachte. Letztlich bedeutet es, in jedem Moment über seine eigenen Empfindungen im Klaren zu sein. Dafür braucht man keine besonderen Bedingungen. Eine andere Definition, die ich nützlich finde, ist, dass man weniger reaktiv ist, sondern in der Lage ist, zwischen Reizen und der entsprechenden Reaktion einen Raum zu schaffen. Genau in diesem Raum steckt unsere Freiheit. Wenn ich achtsam mit mir selbst und auch mit anderen umgehe, bin ich meinen Emotionen nicht ausgeliefert. Konkret bedeutet das, ich nehme Gefühle wie Wut zwar wahr, aber dieses Gefühl kommt, verweilt und geht auch wieder. Es geht darum, das Innere besser zu kontrollieren, um mit den Ereignissen in der Außenwelt besser umgehen zu können. Denn wir haben sehr wenig Kontrolle darüber, was rund um uns herum passiert. Das sehen wir aktuell mit der Pandemie: Die Welt da draußen ist völlig unkontrollierbar.
Wie kommt es, dass ein Weltkonzern wie SAP sein Personal in Achtsamkeit schult? Vor welchem Hintergrund haben Sie das Programm „SAP Global Mindfulness Practice“ 2013 entwickelt?
Das hat mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Ich bin Wirtschaftsingenieur und seit fast 22 Jahren bei SAP. Früher habe ich sehr viel Sport gemacht. Achtsamkeit habe ich eher belächelt. Erst eine persönliche Krise hat mich zum Umdenken gebracht. Achtsamkeit wurde für mich zu einem kraftvollen Instrument, das mir ermöglicht hat, mehr innere Ruhe zu finden und mit mir selbst in Kontakt zu kommen. Ich habe angefangen zu meditieren. Ich habe also meinen Arbeitsalltag bewusst verändert; dadurch konnte ich mit Belastungssituationen besser umgehen. Gleichzeitig haben andere Firmen im Silicon Valley begonnen, Achtsamkeit in ihre Unternehmenskultur zu integrieren. Ich habe mich gefragt, ob wir das bei SAP auch machen könnten. Denn auch in einem Weltkonzern arbeiten Menschen.
2013 haben wir mit ersten Pilotinitiativen begonnen. Ich hätte damals nie für möglich gehalten, dass unser Programm so groß werden würde. Doch das Interesse der Beschäftigten ist immer weiter gewachsen und im Moment haben wir das Luxusproblem, dass wir eine Übernachfrage haben.
Teil des Programms ist auch der zweitägige Achtsamkeits-Workshop „Search Inside Yourself“ (kurz: SIY) für Manager*innen und Mitarbeiter*innen. Über 13.000 SAP-Mitarbeiter*innen weltweit haben daran teilgenommen. Wie genau funktioniert das Training?
Das Format wurde 2007 von Chade-Meng Tan, einem Software-Ingenieur bei Google entwickelt und 2012 für die Öffentlichkeit freigegeben. Der wichtigste Ansatz dabei ist: Die Mitarbeiter*innen sollen neugierig werden. Das Programm ist streng säkular, was vor allem im Unternehmenskontext entscheidend ist. Ein weiterer wichtiger Punkt: Das Training basiert auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften, was skeptischeren Menschen die Berührungsangst nehmen kann. Das Training besteht aus drei Teilen: aus theoretischen Inhalten, aus erfahrungsbasierten Übungen und aus einer gemeinsamen Reflektion, die das Gelernte vertieft. Zentrales Ziel ist die Stärkung der emotionalen Intelligenz und des eigenen Selbst-Bewusstseins. Menschen, die eine hohe emotionale Intelligenz haben, die eigene Emotionen gut spüren können und mit eigenen Gefühlen guten Kontakt haben, sind im Berufsleben erfolgreich und gesünder. Deswegen erklären wir die fünf Säulen der emotionalen Intelligenz: Selbstwahrnehmung, Selbstregulierung und Selbstmanagement, Motivation und Resilienz, Empathie und soziale Fähigkeiten sowie Führungskompetenz. All diese Fähigkeiten können durch Übung gestärkt werden. Am Ende des Trainings kriegen die Teilnehmer*innen Vorschläge mit zwanzig verschiedenen Übungen und können selber entscheiden, was für sie am besten funktioniert.
Anmerkung: Seit Mitte 2020 finden diese Trainings virtuell statt.
Wie schaffen Sie es, diese Praktiken in den Arbeitsalltag bei der SAP zu integrieren? Wie lässt sich die individuelle Resilienz in stressigen Situationen stärken?
Der wesentliche Aspekt der Achtsamkeit ist: Sie muss praktiziert werden. Nur dann kann sie etwas bewirken. Neurolog*innen sprechen hier von Neuroplastizität: Unser Gehirn verändert sich durch die Art und Weise, wie wir es nutzen. Ein einfacher Vergleich: Wenn ich möchte, dass sich mein Körper verändert, reicht es nicht, dass ich mich beim Fitnessstudio anmelde. Ich muss auch hingehen und meine Muskeln trainieren. Gleiches gilt auch für die Achtsamkeit: Ich muss Achtsamkeit üben, um neue neuronale Pfade im Gehirn zu etablieren. Bei SAP haben wir ein großes Netzwerk aus Freiwilligen, die gemeinsame Übungen anbieten, wie zum Beispiel achtsames Essen oder achtsames Gehen. In der Pandemie haben wir das oben genannte Search Inside Yourself Training auf ein virtuelles Training umstellen können und weitere Online-Formate entwickelt. Mehrmals am Tag bieten wir zum Beispiel einen „Mindful Moment“ an, eine kurze, geleitete Achtsamkeitsübung. Aber jede Person ist anders und es ist wichtig, für den Einzelnen passende individuelle Lösungen zu finden.
Inwiefern lässt sich Resilienz in der Unternehmenskultur verankern?
Die Unternehmenskultur ist die Summe der Handlungen der einzelnen Beschäftigten. Und aus einer achtsamen Kultur ergibt sich eine resiliente Kultur. Wenn ich Achtsamkeitstrainings anbiete, fangen Menschen an, sich dafür zu interessieren und Achtsamkeit im Alltag umzusetzen. Mit den Trainings senden wir eine klare Botschaft an die Belegschaft: Emotionen spielen auch im Unternehmen eine wichtige Rolle. So entsteht eine neue Offenheit gegenüber Themen, die mit psychischem Wohlbefinden zu tun haben. Menschen sind bereit, Schwäche zu zeigen, sie können authentisch bleiben. Führungskräfte können dabei als Vorbild fungieren, indem sie zeigen, dass sie auch Pausen machen und Auszeit brauchen. Und es gibt viele Praktiken, die sich mittlerweile bei SAP etabliert haben, wie zum Beispiel das achtsame Ankommen in Meetings: eine schweigsame Minute am Anfang des Treffens, die es ermöglicht, beim Gespräch konzentriert und präsent zu bleiben. Außerdem kommt Resilienz der Flexibilität zugute. Bei SAP haben wir schon vor der Corona-Krise erkannt, dass Flexibilität für uns sehr wichtig ist. Wir wollen den Mitarbeiter*innen die Freiheit geben, ihre Arbeit flexibel zu gestalten und einzuteilen. Dieser große Freiheitsgrad bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die Menschen sich selbst gut steuern müssen.
Wie kann Achtsamkeit helfen, mit den zusätzlichen Belastungen, die mit der Pandemie im Alltag und in der Arbeitswelt einhergehen, besser umzugehen?
Es gibt natürlich Menschen, die mit der Lage gut umgehen können und für die Beispielwiese das Homeoffice ein Gewinn ist. Und es gibt andere, die unter Isolation und Vereinsamung leiden, oder die Versorgung von Kindern und Angehörigen mit dem Beruf vereinbaren müssen und die Lage deswegen sehr stressig empfinden. Wichtig ist vor allem, sich einzugestehen, dass die aktuelle Situation belastend sein kann und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen: Was hilft mir, was stabilisiert mich und was finde ich anstrengend? Ich persönlich habe zum Beispiel festgestellt, dass mir vier Stunden virtuelle Meetings ohne Pause nicht guttun. Deshalb mache ich das nicht mehr. Was auch in der aktuellen Situation helfen kann: Mitgefühl mit sich selbst, eine freundliche Haltung sich selber gegenüber. Und: Gut essen. Gut schlafen. Sport machen. An die frische Luft gehen. Den Tag gut zu strukturieren. Alles, was einem guttut, sollte man wahrnehmen und bewusst kultivieren.
Corona wird uns noch eine ganze Weile begleiten: Was sind Ihre praktischen Tipps für mehr Achtsamkeit im Arbeitsalltag?
Oft reicht es tatsächlich, kleine Veränderungen im Alltag vorzunehmen:
1. Einmal am Tag sich bewusst Zeit dafür zu nehmen, innezuhalten, drei tiefe Atemzüge zu nehmen und zu fragen: Wo genau spüre ich meinen Atem?
2. Dankbarkeit kultivieren: Unsere Gehirne sind geschult, Bedrohung und Schwierigkeiten überproportional stark wahrzunehmen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf das Positive im Leben lenke, kann ich diese Negativitätsneigung ausgleichen. Es reicht, sich für fünf Sekunden lang bewusst zu machen, wofür wir gerade dankbar sind.
3. Routinen etablieren, wie zum Beispiel eine feste Morgen- und Abendroutine.
4. Alltägliche Tätigkeiten, wie etwa das Zähneputzen, Duschen oder Autofahren bewusst durchführen und immer bei einer Sache bleiben. Unser Geist hat die Neigung, immer in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu schauen. Die Gegenwart wird dabei vernachlässigt. Wenn ich einfache Dinge bewusst mache, kann ich im Jetzt ankommen.
5. Bewusst mit den Sinnen in Kontakt treten: Natur, Sonne, frische Luft genießen.
6. Achtsam zuhören und das Verbindende zwischen mir und anderen Menschen wahrnehmen.
7. Grenzen setzen, im Beruf und im privaten Leben: Ich muss nicht die ganze Zeit erreichbar sein.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bostelmann!