Menschen, die bisher wenig beachtet wurden, sind auf einmal systemrelevante Held*innen. Wie sehen diese Menschen selbst ihre Arbeit?
Die Menschen, über die wir hier sprechen wollen – die Regaleinräumer*innen und Kassierer*innen in den Supermärkten, die Pflegehelfer*innen in den Krankenhäusern und Altenheimen, die Lagerarbeiter*innen und die Kurierfahrer*innen, die Reinigungskräfte und die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr – sind keine homogene Gruppe, die man über einen Kamm scheren kann. Dazu sind ihre biografischen Flugbahnen und ihre Arbeits- und Lebenssituationen zu unterschiedlich. Allerdings gibt es auch Gemeinsamkeiten, aus denen man schließen kann, wie sie die aktuelle Krise und ihre neue Rolle erleben.
Es ist für sie nicht akzeptabel, auf der faulen Haut und dem Staat auf der Tasche zu liegen. Ihr Selbstwertgefühl speist sich daraus, dass sie mit ehrlicher, konkreter, oft körperlich anstrengender Arbeit ihr Leben und das ihrer Familie so gut es geht bestreiten. Vielen fehlt jedoch Anerkennung für ihre Arbeit.
Woran zeigt sich das?
Einerseits finanziell, denn die meisten bewegen sich im Niedriglohnsektor. Nicht wenige müssen sogar aufstocken. Aber auch betriebsintern vonseiten der Kolleg*innen oder Weisungsbefugten erfahren sie wenig Wertschätzung. Dass man funktioniert und keine Fehler macht, wird stillschweigend vorausgesetzt. Dazu kommt das Gefühl der Ersetzbarkeit. Gerade in Krisensituationen geht man davon aus, dass man – weil man nur angelernt ist und wenig Verantwortung trägt – als Erstes entbehrlich ist. Das daraus entstehende permanente Unsicherheitsgefühl ist fatal, denn es nagt am Selbstrespekt ebenso wie am Gemeinschaftsgeist oder am Zukunftsoptimismus. Ein möglicher Arbeitsplatzverlust infolge der Coronakrise würde diese Gruppe also nicht nur materiell, sondern auch psychisch besonders hart treffen.
Nun rückt diese Beschäftigtengruppe plötzlich ins Rampenlicht. Ausgewählte Protagonist*innen werden sichtbar und von den Medien zu Alltagsheld*innen stilisiert. Den Beifall von den Balkonen werden die Supermarktkassierer*innen, Kurierfahrer*innen und Pflegehelfer*innen vermutlich mit gemischten Gefühlen entgegennehmen.
Applaus vom Balkon ist kein langfristiger Dank. Was erwarten Menschen in Basisarbeit von der Gesellschaft?
Was diese Menschen anstreben, ist eine sichere Existenz und ausreichend gesellschaftliche Wertschätzung. Diese beiden Aspekte sollten Hand in Hand gehen. Es reicht nicht, wenn z. B. Pflegekräfte Dankbarkeit von Patient*innen und deren Angehörigen erfahren, aber schlecht bezahlt sind und in kräfteraubendem Schichtdienst eingesetzt werden. Die Erwartungen richten sich also zunächst an die Unternehmen und Organisationen, bei denen man beschäftigt ist und betreffen angemessene Entlohnung, Anerkennung und Respekt für den geleisteten Beitrag zum Arbeitsprozess. Was ihr Image und ihre gesellschaftliche Anerkennung betrifft, haben „systemrelevante“ Tätigkeiten großen Nachholbedarf. In den von uns durchgeführten Interviews und Gruppendiskussionen berichten die in diesen Bereichen arbeitenden Menschen immer wieder über den rüden Ton der Kund*innen und die gestiegene Aggressivität in der Gesellschaft.
Und was erwarten sie von der Politik?
Ihre Erwartungen an Politik und Staat hat diese Beschäftigtengruppe weit zurückgeschraubt. Es dominiert das Gefühl, von Politik nicht gehört und nicht oder nur unzureichend vertreten zu werden. Dafür werden einige Indizien herangezogen, z. B. dass im Bundestag keine „ungelernten Arbeiter*innen“ sitzen oder dass politische Kommunikation schon rein sprachlich über die Köpfe der „einfachen Leute“ hinweggeht. Davon ausgehend wird erwartet, dass sich Politik mehr um die spezifische Arbeits- und Lebenssituation dieser Gruppe kümmert. Im Zentrum steht dabei die soziale Absicherung – von einer Erhöhung des Mindestlohns über mehr Arbeitsplatzsicherheit bis hin zu Maßnahmen, die Altersarmut eindämmen.
Wird sich durch die Coronakrise etwas in der Gruppe der Basisarbeiter*innen ändern? Was denken Sie?
Das hängt wesentlich davon ab, wie lange der Applaus und die neue Wertschätzung andauern und ob sie nachhaltige Wirkungen haben. Als „systemrelevant“ anerkannt zu werden, aber weiterhin schlecht bezahlt und schlecht behandelt zu werden, bedeutet keine Verbesserung der Lage.
Außerdem wird sich im weiteren Verlauf der Coronakrise zeigen müssen, inwieweit „Systemrelevanz“ vor Entlassung schützt. Viele Basisarbeiter*innen sind teilzeitbeschäftigt und haben befristete Verträge. Damit gehören sie zu den in krisenhaften Zeiten besonders von Arbeitslosigkeit Bedrohten.
Vielen Dank, Herr Wind!
Dr. Thomas Wind hat sich zu Beginn des Jahres in einer qualitativen Sondierungsstudie im Auftrag des BMAS mit der Gruppe der Basisarbeiter*innen, ihren Erfahrungen im Arbeits- und Alltagsleben, ihren Haltungen und Wertorientierungen beschäftigt. Dazu wurden Einzelexplorationen/Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen durchgeführt.
Thomas Wind ist Sozial- und Meinungsforscher und Geschäftsführer des IfZ Institut für Zielgruppenkommunikation in Heidelberg sowie Partner der No Drama Strategieberatung in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Meinungsforschung, Milieuforschung und Strategie- und Konzeptforschung. Die Liste der Auftraggeber umfasst Landes- und Bundesministerien, Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Stiftungen und NGOs.