Die Gruppe der Studierenden ist derzeit besonders von Einsamkeit betroffen. Häufig wechseln jungen Menschen für das Studium den Wohnort, können dort unter den aktuellen Beschränkungen aber oftmals wenig oder keine neuen sozialen Kontakte knüpfen. Wie groß schätzen Sie die Problematik ein?
Einsamkeitsgefühle und Verunsicherung trotz guter sozialer Beziehungen, Sorge um Angehörige und sich selbst, Furcht vor einem möglicherweise verlängerten Studium, finanzielle Notlagen, zu wenige Mitsprache und Beteiligung, Zukunftsängste: Viele junge Menschen, auch Studierende leiden unter den Coronamaßnahmen. Besonders hart trifft es jene Studierenden, die vorbelastet sind und über weniger familiäre, soziale und materielle Unterstützungsressourcen verfügen. Dazu zählen auch Studierende aus dem Ausland.
- 21,6 % haben große Sorge, das Studium unter diesen Bedingungen zu schaffen.
- 47,5 % denken darüber nach, das Studium zu verlängern.
- 36,3 % denken darüber nach, das Studium abzubrechen.
Zu diesen Ergebnissen kommt die bundesweite Untersuchung von Stu.diCo, an der 3.592 Studierende teilgenommen haben. Das Fazit der Wissenschaftler*innen: Die aktuelle Krisensituation verstärkt die Bedarfe nach Beratung und generell nach mehr und leichteren Kontakten, besserer Kommunikation sowie besseren Austauschmöglichkeiten.
Eine Gruppe von jungen Menschen fühlt sich durch die Kontaktbeschränkungen jedoch entlastet: Menschen mit sozialen Phobien und Depressionen. Zu diesem Schluss kommt die bundesweite JuCo-Studie42.
Was wir sehen: Viele Studierende kommen gut mit den veränderten Bedingungen zurecht. Und nicht wenige psychosoziale Beratungsstellen der Studierendenwerke stellen sich mit ihren Angeboten immer besser auf die aktuelle Situation ein und entwickeln zusammen mit den Studierenden neue Formate. In Leipzig z.B. gibt es den „Kick-Start in den Tag“, ein Treffen am Morgen, in dem Studierende von ihren Tagesvorhaben berichten und sich gegenseitig motivieren, zum Onlinelernen verabreden usw.
Was wir auch sehen: Wie schwer es doch vielen Studierenden fällt, schlechte Tage zuzulassen, sich zuzugestehen, dass dies auch zum Leben dazugehört und dass es gerade vielen Menschen schwerfällt, alles unter einen Hut zu bekommen – fehlende soziale Kontakte, Homeoffice, Kinderbetreuung, Angst zu erkranken, finanzielle Sorgen. Sich darüber auszutauschen, wie wir Schwierigkeiten überwinden können, zusammen zu lachen und sich gegenseitig aufzubauen, zu sich zu stehen, egal was gerade los – das ist ein großes Bedürfnis von Studierenden, mit denen wir es zu tun haben. Und sie schätzen es sehr, dass wir solche Möglichkeiten des Austauschs schaffen.
Welche Angebote und Strategien bietet der Verein Irrsinnig Menschlich e.V. speziell für Studierende an, um psychische Belastungen von Studierenden abzumildern bzw. diesen entgegenzuwirken?
Seit 2017 bieten wir Hochschulen das von uns entwickelte Programm „Psychisch fit studieren“ an. Es besteht im Kern aus einem offenen zweistündigen Forum – offline im Hörsaal und online im Netz. Wir machen psychische Krisen im Studium für alle Studierenden besprechbar, stellen Hilfen am Hochschulort vor und fördern psychisches Wohlbefinden. Das Präventionsangebot ist universell und sekundär konzipiert. Es richtet sich an alle Studierenden, besonders an jene, die zu studieren beginnen, und zugleich an die ca. 30 % der Studierenden, die das Studium bereits psychisch belastet beginnen. Besonders diese Gruppe ermutigen wir durch unsere Präventionsarbeit nachweislich, sich informiert, aufgeklärt und rechtzeitig Hilfe zu suchen, ohne dass sie Stigmatisierung und Scham davon abhalten.
Gestaltet werden die Foren von Tandems aus fachlichen und persönlichen Expert*innen von Irrsinnig Menschlich e.V. in Zusammenarbeit mit den psychosozialen Beratungsstellen der Hochschulen. Die Hörsäle waren von Anfang an voll und das Interesse der Studierenden groß. Viele Studierende haben sich bei uns bedankt und gesagt, wir wären die ersten in ihrem Leben, die psychische Krisen und Hilfen dafür so offen und ermutigend zur Sprache bringen. Seit April 2020 bieten wir ausschließlich Onlineforen für Studierende und zunehmend auch für Hochschulmitarbeitende und Doktorand*innen an. 80 Hochschulen sind dabei, die Hälfte von ihnen sind „Dauerbucher“.
Wir sind sehr froh und stolz, dass Irrsinnig Menschlich e.V. die erste Organisation ist, die überregional eine niedrigschwellige Basisintervention für Studierende zur Stärkung ihrer psychischen Gesundheitskompetenz (Mental Health Literacy) skaliert.
Unsere Ziele im Setting Hochschule sind Veränderungen auf der Einstellungs-, Verhaltens- und Verhältnisebene. Das reicht von Wissen und Bewusstsein zu Strategien zum Abbau von individuellen und öffentlichen Stigmata über individuelle Änderungen im Hilfesuchverhalten bis hin zu strukturellen Veränderungen an der Hochschule: von der besseren Vernetzung und Bekanntheit von Hilfs- und Unterstützungsangeboten bis hin zu Änderungen von Prüfungsordnungen. Damit geben wir Impulse für die Förderung von Prävention und Gesundheit an Hochschulen insgesamt.
Sie sind bereits seit vielen Jahren in der Präventionsarbeit zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aktiv. Welche Fortschritte sehen Sie? Welche Hemmnisse gibt es noch?
Irrsinnig Menschlich e.V. begeistert seit über 20 Jahren junge Menschen in Deutschland, Österreich, Tschechien und in der Slowakei mit Programmen zur Prävention psychischer Erkrankungen und zur Förderung seelischen Wohlbefindens. Ziel ist stets die Verhaltens- und Verhältnisprävention – am besten im Verbund mit weiteren Akteuren. Wir machen psychische Krisen gemeinsam besprechbar und stärken die psychische Gesundheitskompetenz. Damit greifen wir ein hochrelevantes Thema auf, das in Schule und Studium, Ausbildung und Beruf kaum Platz findet, Familien oft überfordert sowie persönliches Leid und immense gesellschaftliche Kosten verursacht. Unsere Programme sind besonders wirksam durch die Verbindung von Edukation (Information, Aufklärung) und Kontakt mit Menschen, die psychische Krisen gemeistert haben. Unser erfolgreichstes Programm „Verrückt? Na und! Seelisch fit in der Schule“ erreichte 2019 etwa 40.000 Schüler*innen, Lehrkräfte und Multiplikator*innen. Es wird systematisch skaliert: Die Anzahl der Teilnehmer*innen wächst jährlich um 20 %. Durch die Coronapandemie konnten wir ab April 2020 bis jetzt nicht mehr an Schulen arbeiten - deshalb nenne ich hier die Teilnehmerzahlen für 2019.
Wir wissen, psychische Erkrankungen beginnen früh, etwa die Hälfte bis zum 15. Lebensjahr, drei Viertel bis zum 25. Lebensjahr. Erfolgreiche Prävention in jungen Jahren kann für Jahrzehnte erhaltener Gesundheit, sozialer Teilhabe, Arbeitsfähigkeit und Lebenszufriedenheit sorgen. Der gesellschaftliche Nutzen von Prävention psychischer Erkrankungen ist also unbestritten. Und wir begrüßen Initiativen wie die „Offensive Psychische Gesundheit“ sehr. Gleichwohl gelingen selten ein abgestimmtes Vorgehen und gemeinsame Budgets. Gründe dafür sind, dass hinsichtlich Finanzierung, Verantwortlichkeiten, Zielen, Sprache und Regeln die Bereiche von Gesundheit, Jugendhilfe, Bildung, Ausbildung, Arbeit, Sozialleistungen und Justiz so stark getrennt sind, dass eine Zusammenarbeit „unmöglich“ erscheint.
Wir haben nach 20 Jahren Präventionsarbeit den Eindruck, dass psychische Gesundheit politisch im großen Bereich der Präventionsmaßnahmen nicht priorisiert und folglich Prävention psychischer Erkrankungen nicht ausreichend finanziert und implementiert wird. Das öffentliche und strukturelle Stigma sind u. a. Hauptgründe dafür. Das seit 2016 gültige Präventionsgesetz hat aus unserer Sicht zur Verbesserung der Strukturen und der Koordination nicht merklich beigetragen. Dabei ist es wirtschaftlich und ethisch geboten, heute die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu fördern, damit weniger von ihnen die arbeitslosen und kranken Menschen von morgen sein werden. Dringend nötig ist ein Ansatz, der psychische Erkrankungen mit ihren weitreichenden sozialen Ursachen und Folgen über alle Politikbereiche hinweg priorisiert! Die beste gesellschaftliche Prävention ist aus unserer Sicht freilich ein hohes Maß an Fairness, Gerechtigkeit und Bildung.
Dr. Manuela Richter-Werling, Gründerin und Geschäftsführerin Irrsinnig Menschlich e.V., 2000 in Leipzig gegründet
Vision
Seelische Gesundheit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Jeder Mensch weiß, wie wertvoll seelische Gesundheit ist und wie sie gepflegt werden kann. Auf seelisches Wohlbefinden zu achten, ist für alle selbstverständlich, und niemand wird wegen einer seelischen Krise ausgegrenzt.
Mission
Psychische Erkrankungen beginnen oft schon im Jugendalter. Doch häufig vergehen mehrere Jahre, bis sich Betroffene Hilfe suchen. Die größte Hürde für sie ist die Angst, stigmatisiert zu werden. Mit unserer Präventionsarbeit in Schule, Studium und Arbeit verkürzen wir diese Zeitspanne. Wir helfen Menschen, ihre Not früher zu erkennen, sich nicht zu verstecken und Unterstützung anzunehmen. Gemeinsam mit unseren krisenerfahrenen Expert*innen öffnen wir Herzen, geben Hoffnung und machen seelische Krisen besprechbar.
Drei Programme
Psychisch fit lernen: Verrückt? Na und! Seelisch fit in der Schule
Psychisch fit studieren
Psychisch fit arbeiten
Homepage: www.irrsinnig-menschlich.de