Jeder Mensch kann aus dem seelischen Gleichgewicht geraten – als Ergebnis anhaltender Überforderung, belastender Lebenserfahrungen, traumatischer Erlebnisse oder individueller Veranlagungen. Psychische Erkrankungen sind daher häufig, über sie gesprochen wird jedoch noch zu selten. Denn nach wie vor werden Betroffene stigmatisiert, wie aktuelle Studien zeigen. Die Folge: Anstatt sich zu öffnen und die notwendige Hilfe zu suchen, stellt die Stigmatisierung eine zusätzliche Belastung für Betroffene dar und behindert den konstruktiven Umgang mit ihrer Erkrankung. Dabei ist belegt: Wenn professionelle Hilfe nicht oder erst verzögert in Anspruch genommen wird, steigt die Krankheitsdauer. Die Folgen spüren die Betroffenen genauso wie das Umfeld, sei es in Partnerschaft und Familie, im Freundeskreis, in der Schule, im Studium, am Arbeitsplatz oder im Verein.
Die betrieblichen Kosten psychischer Erkrankungen sind hoch
Psychische Krankheiten können dabei sowohl zu Absentismus, also dem Fehlen bei der Arbeit, als auch zu Präsentismus, dem Weiterarbeiten trotz Krankheit führen. Internationale Studien zeigen: Der Verlust an Produktivität für Unternehmen aufgrund von Depressionen bei Beschäftigten ist besonders ausgeprägt, wenn sie trotz Krankheit weiter zur Arbeit gehen. Die resultierenden Kosten für die Betriebe sind nach Berechnungen von Wissenschaftler*innen der London School of Economics durch Präsentismus um das Fünf- bis Zehnfache höher als die Kosten, die durch das krankheitsbedingte Fehlen entstehen würden.
Zwei repräsentative Befragungen belegen anhaltende Stigmatisierung
In zwei aktuellen repräsentativen Erhebungen im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) wurden die Auswirkungen der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen auf die Arbeitswelt sowie auf das allgemeine Miteinander untersucht. Die Ergebnisse sind im Monitor „Offener Umgang mit Psychischer Gesundheit“ zusammengefasst:
Im Oktober 2019 wurden durch den Panelanbieter Respondi insgesamt 5.117 Beschäftigte aus sieben unterschiedlichen Branchen – vom Öffentlichen Dienst bis zur Land- und Forstwirtschaft – zu Gesundheit, Belastungen und psychosozialen Arbeitsbedingungen befragt.
Im Januar 2020 wurden durch das Marktforschungsunternehmen KANTAR in einer Telefonbefragung 2.542 Personen interviewt. Die Antworten wurden nach soziodemografischen Merkmalen gewichtet, sodass die Ergebnisse als repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 14 Jahren anzusehen sind.
Beide Erhebungen zeigen, dass es noch immer ausgeprägte Vorbehalte gegenüber psychischen Erkrankungen gibt und diese vielfach schambesetzt sind. So geben 40 Prozent derjenigen an, die schon einmal selbst psychisch erkrankt waren, sich zumindest teilweise für ihre Erkrankung geschämt zu haben (KANTAR 2020). Unter den Beschäftigten geben sogar 65 Prozent an, sie würden sich zumindest ein wenig schämen, wenn sie eine psychische Krankheit hätten (HealthVision 2019). Gleichzeitig erklärte ein Viertel aller Befragten, im Falle anhaltender psychischer Probleme keine professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen oder zumindest unentschieden zu sein (KANTAR 2020). Etwa 62 Prozent der Beschäftigten würden mit einer schweren Depression zur Arbeit gehen, ohne mit einer*m Vorgesetzten oder einer*m Kolleg*innen darüber zu sprechen (HealthVision 2019).
Stigmatisierung abbauen - Betroffene ermutigen
Die Coronavirus-Pandemie hat darüber hinaus zahlreiche Belastungen in Arbeit, Schule, Familie und anderswo deutlicher als bisher ans Licht gebracht. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, den offenen Umgang mit psychischen Belastungen und Erkrankungen zu stärken. Das heißt, psychische Gesundheit im eigenen Umfeld in den Blick zu nehmen und offen darüber zu sprechen sowie Betroffene zu ermutigen, Hilfsangebote frühzeitig in Anspruch zu nehmen.
Eine ausführliche Darstellung der Befragungsergebnisse sowie weitere Informationen zum Studiendesign finden Sie jetzt im Monitor „Offener Umgang mit Psychischer Gesundheit“.