Warum gibt es gerade in der Arbeitswelt ein so großes Bedürfnis, über die Digitalisierung zu sprechen?
Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Arbeitswelt grundlegend zu verändern, so wie es zu ihrer Zeit die Industrialisierung getan hat. Wir werden in Zukunft mehr an digitalen Endgeräten arbeiten, unsere Arbeitsprozesse zunehmend digital aufstellen und digitaler zusammenarbeiten. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir noch nicht sicher sagen können, ob der digitale Wandel sich von den technischen Entwicklungen, die die Arbeitswelt seit jeher verändert haben, unterscheiden wird. Das wäre erst dann der Fall, wenn die Veränderungen viel durchgreifender und radikaler wären. Die Roboter übernehmen jedenfalls noch lange nicht die Betriebe, wie die Medien es darstellen.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat herausgefunden, dass ein Viertel der Berufe potenziell durch Technik ersetzt werden kann. Beunruhigen Sie solche Statistiken?
Dass in der Arbeitswelt Jobs durch Technologien wegfallen, ist schon lange so. Wir haben heute auch keine Telefonistinnen, Kutscher oder Setzer im Zeitungsdruck mehr. Das alles waren Berufe, die durch den technologischen Wandel in relativ kurzer Zeit verloren gegangen sind. Es ist aber nicht so, dass heute Hunderttausende arbeitslose Menschen die Straßen bevölkern. Im Gegenteil: Seit der Wiedervereinigung war der Beschäftigungsanteil noch nie so hoch. Die Geschichte zeigt, dass in dem Ausmaß, in dem alte Berufe verschwinden, neue entstehen. Das ist natürlich für den einzelnen Buchsetzer, der über 50 ist, ein schwacher Trost. Trotzdem ist es gesamtarbeitsmarktpolitisch immer hingekommen. Ähnliches lässt sich auch beim digitalen Wandel erwarten.
Bei vielen Beschäftigten löst die Digitalisierung am Arbeitsplatz Stress aus, zum Beispiel durch das Gefühl, immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen zu müssen. Woran liegt das?
Stress ist eine Frage der Arbeitsgestaltung. In welcher Zeit wird von uns erwartet, dass wir einen Job erledigen? In welcher, dass wir eine neue Software lernen? An welchen Stellen müssen wir Jobs von Kolleg*innen übernehmen? Technologie ist ein Mittel, um Arbeitsaufgaben zu erledigen. Aber sie ist nicht die einzige Ursache für Stress. Viel problematischer finde ich, dass Beschäftigte so geführt werden, als wären sie selbst Arbeitgeber – selbstständige Unternehmer mit eigenen unternehmerischen Zielen und eigenem Risiko.
Was genau ist das Problem? Wenn Mitarbeitende Verantwortung übernehmen, ist das doch eigentlich gut.
Der Tenor in der Arbeitswelt ist nicht mehr „Wir bezahlen dich dafür, dass du während deiner Arbeitszeit die optimale Leistung erbringst“, sondern „Wir bezahlen dich dafür, dass du bis übermorgen die Präsentation fertig hast“. Als Mitarbeiter fange ich dann an, mich wie ein Unternehmer zu verhalten. Ich setze meine eigenen Ressourcen ein, arbeite über die Kernzeiten hinaus. Der Unternehmer hat ein Risiko, aber er hat auch einen potenziellen Gewinn. Den habe ich als Arbeitnehmer nicht. Da bleibt mir nur das Risiko. Im Zweifelsfall bringt mich diese Art der Arbeitsorganisation dazu, über meine Grenzen und damit auch die gesundheitlichen Grenzen hinauszugehen. Das hat Folgen für die Mitarbeitergesundheit im Betrieb.
Es ist also nicht die digitale Technologie, die Stress bei uns auslöst, sondern eher die Unternehmenskultur und das Miteinander am Arbeitsplatz?
Wenn man sich die Ursachen für Stress in Deutschland anschaut, ist „Kollege Computer“ bei Weitem nicht die Nummer eins. Die Top-Stressoren im Job liegen eher in der Arbeits- und Aufgabengestaltung, in Termindruck, Gehetztsein und Unterbrechungen. Das deutet darauf hin, dass Arbeitgeber im Zeitalter der Technisierung und Flexibilisierung auf eine zunehmend dünnere Personaldecke setzen. In Deutschland sind in den meisten Branchen die Personalkosten aus Unternehmersicht die höchsten. Deswegen versuchen Arbeitgeber, sie so gering wie möglich zu halten. Man beschäftigt also so wenig Menschen wie möglich, um Arbeit immer flexibler erledigen zu lassen. Was letztlich Stress auslöst, ist nicht die Tatsache, dass wir an einem Laptop oder mit einem Tablet arbeiten. Das Problem ist: Diese Kommunikationskanäle konfrontieren uns damit, dass wir immer mehr Aufgaben in immer weniger Zeit erledigen müssen.
Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen schaffen, damit die Vorteile der Digitalisierung überwiegen?
Die Digitalisierung ist wie jeder tiefgreifende Wandel Chance und Risiko zugleich. Sie bietet vielfältige Möglichkeiten für Wachstum und die Erschließung neuer Beschäftigungsfelder. Auch aus Beschäftigtensicht eröffnet sie vielfältige Chancen, zum Beispiel mobiles, ortsunabhängiges Arbeiten – dieses wird von Arbeitnehmer*innen im Zuge der Verbreitung des Home-Office auch immer häufiger nachgefragt. Mit mobiler Arbeit kann Arbeit für ältere Menschen oder für Menschen mit Beeinträchtigungen auch besser gestaltet werden. Und wenn etwa produzierende Unternehmen Mitarbeitende in Hightech-Anzüge und Exoskelette stecken, ist das erst einmal nichts Schlechtes.
Damit sind am Körper tragbare Roboter oder Maschinen gemeint, die Muskelbewegung unterstützen, also körperlich entlasten und so die Gesundheit schützen sollen.
Genau. Es geht darum, dass die Arbeit weniger körperlich belastend ist und Beschäftigte sie besser im höheren Alter ausüben können – ohne dass sie sich dabei die Gelenke ruinieren. Ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland hat das Gefühl, dass die körperlichen Anforderungen an die Arbeit durch die Digitalisierung zurückgehen. Gerade in einem Land, in dem Rücken- sowie Muskel- und Skelett-Erkrankungen eine der Hauptursachen für Frühverrentungen darstellen, sind das doch erst einmal gute Nachrichten.
Die Digitalisierung bietet vor allem für Wissensarbeiter*innen viele Möglichkeiten, Arbeit flexibler zu gestalten. Das ist etwas Gutes. Gibt es auch Nachteile?
Wenn eine Bürokraft in den 1970er Jahren Feierabend machte, hat sie mit der Schreibmaschine und dem Diktiergerät ihre Arbeitsmittel im Büro zurückgelassen. Das ist heutzutage anders. Die meisten von uns tragen immer ihr Smartphone und viele auch ihren Laptop und damit ihren Arbeitsplatz quasi bei sich. Gerade für Wissensarbeiter*innen bedeutet das, dass sie ihre vornehmlich digitale Arbeit eigentlich immer und überall erledigen können. Die Digitalisierung trägt also dazu bei, dass Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer stärker verschwimmen. Nicht jeder Mensch kann damit gut umgehen. Problematisch wird es an dem Punkt, wo diese Entgrenzung als Belastung erlebt wird und wenn Dinge im Privatleben zu kurz kommen. Wir müssen also aufpassen, dass durch zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten nicht das Diktat des „Always and everywhere“ entsteht. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland aufgrund psychischer Erkrankungen wie Burn-out, Depression oder Angst mehr als verdoppelt.
Was können Unternehmen tun, damit diese Zahl zurückgeht?
Es braucht klare Maßnahmen im Betrieb: auf der einen Seite Verhaltensprävention und auf der anderen Seite Verhältnisprävention. Als Arbeitgeber muss ich das Wohlergehen meiner Beschäftigten zunächst strukturell, strategisch und kulturell im Unternehmen verankern und entsprechende Arbeitsbedingungen schaffen. Messbare Faktoren wie geringe Fluktuation und geringe Krankenstände im Betrieb müssen Teil meiner Unternehmensziele sein. Denn was nicht gemessen wird, ist auch nicht wichtig in der Wirtschaft. Darüber hinaus ist Mitarbeitergesundheit immer ein Kultur- und Führungsthema. Gesundheitsorientierte Mitarbeiterführung bedeutet, dass die Führungskräfte sich darüber klar werden, dass ihr Verhalten und die Art, wie sie die Arbeit gestalten, einen starken Einfluss auf die Gesundheit von Mitarbeiter*innen hat. Wenn ich als Führungskraft am Sonntag um 17 Uhr E-Mails verschicke, dann ist das immer auch symbolisches Führungsverhalten und signalisiert: „Um es bei uns im Unternehmen zu etwas zu bringen, muss man sonntagnachmittags arbeiten."
Haben Sie ein Gegenbeispiel, wie gesundheitsorientierte Mitarbeiterführung gelingt?
Ich habe auf Twitter von einem kleinen amerikanischen Dienstleistungsunternehmen gelesen. Eine Mitarbeiterin hatte Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit. Sie hatte sich zwei Karenztage genommen und eine automatische Nachricht in ihrem E-Mail-Postfach eingerichtet: „Liebe Kollegen, ich habe mir zwei Tage freigenommen, um meiner Psyche Zeit zur Regenerierung einzuräumen. Ich bin am Montag wieder da.“ Diesen Autoresponder hat auch der Chef bekommen und ihn an alle Kolleg*innen im Unternehmen weitergeleitet: „Nehmt euch ein Beispiel an Karen – Gesundheit geht vor. Alles Gute, Karen! Ich freue mich, dich am Montag wiederzusehen.“ Das ist gesundheitsorientierte Mitarbeiterführung.
Ist das auch ein gutes Beispiel, was Mitarbeitende selbst tun können, um psychisch gesund zu bleiben?
Es ist auf jeden Fall ein gutes Beispiel für Selbstsorge. Wichtig sind alle Maßnahmen, die im Sinne der Verhaltensprävention am eigenen Verhalten ansetzen. Dazu gehören auch Selbst- und Zeitmanagement sowie eine gesunde Lebensweise, zum Beispiel durch gesunde Ernährung. Das kann aber höchstens einen Teil der Prävention ausmachen, denn am Ende ist es die Arbeitsbelastung, die den Stress macht und die Mitarbeitergesundheit bestimmt. Einer überarbeiteten Pflegekraft nützt ein Achtsamkeitskurs wenig – hier würde einfach mehr Personal helfen. Verhaltenspräventive Angebote nehmen den Arbeitgeber aus der Pflicht, wenn sie nicht in der gleichen Größenordnung durch Verhältnisprävention, die an den Arbeitsverhältnissen ansetzt, ergänzt wird.
Bertolt Meyer ist Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität Chemnitz und geschäftsführender Direktor des Instituts für Psychologie. Zur Digitalisierung hat er neben dem fachlichen auch einen persönlichen Bezug – im Arbeitsalltag begleitet ihn eine bionische Handprothese.