Herr Pern, Sie sind seit mehr als 35 Jahren Betriebsratsvorsitzender im Miele-Werk Lehrte. Ist „Resilienz“ ein Begriff, mit dem Sie sich schon länger beschäftigen?
Resilienz bezieht sich einerseits auf die psychische und körperliche Belastbarkeit der Beschäftigten. Andererseits auf die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der Organisation. Der Begriff selbst ist zwar relativ neu, doch alles, was wir damit verbinden, beschäftigt mich schon mein ganzes Arbeitsleben.
Was ist die Rolle der Betriebsräte in der Gestaltung einer resilienten Betriebskultur?
Resiliente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Basis für ein wettbewerbsfähiges Unternehmen. In der Praxis hat Resilienz mit Arbeitsabläufen, Arbeitsorganisation, Belastungsbeurteilung sowie Arbeitszeitregelungen zu tun. Genau diese Bereiche kann der Betriebsrat gestalten. Wir sind verantwortlich, mit Führungskräften und Werksleitung die Veränderungsprozesse abzustimmen und die Entscheidungen nach außen zu kommunizieren. Einerseits wollen wir dafür sorgen, dass der Betrieb produktiv und wirtschaftlich bleibt. Auf der anderen Seite geht es um den Menschen, der bei Miele im Mittelpunkt steht und den ich sicher durch das Arbeitsleben führen will.
In den letzten Jahrzehnten hat Ihr Werk weitreichende Veränderungen erfahren. Wie kann der Betrieb trotz Optimierungsdruck resilient und zukunftsfähig bleiben?
Veränderungen sind Teil des Arbeitslebens, in der Produktion wie auch in Vertrieb, Service und Verwaltung. Nehmen Sie allein die Auswirkungen der Digitalisierung. Darauf müssen wir reagieren, etwa mit Blick auf die Personalplanung. Am Standort Lehrte haben wir über die Jahre hinweg erhebliche Transformationen sowie Krisenzeiten erlebt. Ganze Produktbereiche wie die Melkmaschinen oder Schiffsgetriebe wurden aus dem Programm genommen. Wir haben uns in Lehrte auf die Wäschereitechnik fokussiert und brauchten dafür zusätzliche Kapazitäten. Dadurch sind viele Tätigkeiten weggefallen und durch neue ersetzt worden. Dies war nötig, um Beschäftigung und Wirtschaftlichkeit des Werkes zu sichern. Solche Transformationsprozesse sind mit Angst und Unsicherheit verbunden. Im Ergebnis hat die Umstellung gut funktioniert, auch ohne jeden Job-Abbau. Aufgabe des Betriebsrates ist es, in einer solchen Situation die Beschäftigten abzuholen, der Belegschaft eine Perspektive aufzuzeigen und sie in neue Arbeitsprozesse hinein zu begleiten. Wenn sie notwendig und vernünftig sind, können Veränderungen die Resilienz des Unternehmens stärken.
Sie sagen: Der Mensch steht bei Miele im Mittelpunkt. Welche konkreten Maßnahmen haben Sie im Werk Lehrte durchgeführt, um die Resilienz der Beschäftigten zu stärken?
Zum Beispiel haben wir uns sowohl im Montage- als auch im Angestelltenbereich dafür entschieden, die tatsächliche Arbeitsbelastung zu messen. Dazu haben wir die einzelnen Tätigkeiten qualifiziert und quantifiziert. Ziel war die Sicherstellung, alle Aufgaben innerhalb der regulären Arbeitszeit schaffen zu können. So konnten wir die Tagesbelastung realistisch einschätzen. Im Angestelltenbereich wurden so Prozesse optimiert - weil wir redundante Tätigkeiten gestrichen haben.
Wie unterstützen Sie ihre älteren Mitarbeitenden?
Ältere Beschäftigte im Betrieb haben ganz individuelle Bedürfnisse. Menschen mit medizinisch nachgewiesenen gesundheitlichen Problemen dürfen ihre Leistung reduzieren, ohne finanziell benachteiligt zu werden. Beschäftigte kurz vor der Rente können ihren Arbeitsbereich aufgrund ihrer hohen Qualifizierung wechseln, zum Beispiel aus der Montage in den Kundendienst. Wenn wir wissen, dass eine Person bald aussteigen wird, achten wir auf notwendige Übergaben. Nachhaltige Personalplanung ist der Schlüssel zur Gestaltung eines resilienten Unternehmens.
Ist Zeitsouveränität ebenso Teil resilienter Betriebskultur?
Zeitsouveränität ist sogar einer der wichtigsten Zufriedenheitsfaktoren. Im Werk Lehrte ist flexible Arbeitszeit die Regel, sowohl im Angestelltenbereich als auch in der Montage. Die Beschäftigten dürfen frei entscheiden, wann sie ihre Arbeit beginnen und wann sie Feierabend haben. Am Tag müssen sie mindestens vier Stunden arbeiten und dürfen zehn Stunden nicht überschreiten. Das heißt, dass sie ihre Aufgaben ganz flexibel gestalten können – abhängig davon, was am nächsten Tag auf sie zukommt. Die Details werden in Teams abgestimmt. Weil die Beschäftigten in der Montage über verschiedene Qualifikationen verfügen, können sie innerhalb der einzelnen Arbeitsbereiche und Stationen wechseln. Diese Mehrfach-Qualifikationen in der Produktion sowie die flexible Arbeitszeitgestaltung haben uns während der Covid-19-Pandemie massiv geholfen.
Trotz Kurzarbeit, Produktionsstopps und Homeoffice im Frühjahr verzeichnet Miele für 2020 einen Rekordumsatz. Wie wirkt sich die Covid-19-Pandemie auf die Produktion, andere Arbeitsprozesse und das Betriebsklima am Standort Lehrte aus?
Viele unserer Beschäftigten arbeiten aktuell von zu Hause aus, auch die Produktion findet entzerrt statt. Im Angestelltenbereich gilt momentan das Prinzip: Eine Person, ein Büro. Was die Motivation betrifft, sind die Fehlzeiten für alle Beschäftigten tatsächlich gesunken. Alle Mitarbeitenden scheinen die Notwendigkeit zu spüren, gerade jetzt das Unternehmen voran zu bringen. Denn es stimmt nach wie vor: Die Verbundenheit mit dem Betrieb wächst mit der Entfernung zum Betrieb. Dazu haben auch die Maßnahmen, die wir zum Schutz der Beschäftigten umgesetzt haben, beigetragen.
Wie hat es geklappt, die Produktion trotz Pandemie aufrechtzuerhalten?
In Lehrte werden hauptsächlich Spezialmaschinen für die gewerbliche Wäschepflege produziert, die zum Beispiel in Hotels, Pensionen oder Krankenhäusern eingesetzt werden. Diese Geräte werden aufgrund der aktuellen Lage natürlich weniger nachgefragt. Dadurch haben wir aber Kapazitäten für die Produktion unserer neuen mobilen Luftreiniger. Sie kommen in Betrieben oder öffentlichen Einrichtungen zum Einsatz, um das Risiko einer Infektion mit Covid-19 zu senken.
Wie sieht die praktische Umsetzung der Schutzmaßnahmen im Fertigungsalltag aus?
Wir haben Schichtmodelle etabliert, Stellwände zum Schutz der Beschäftigten aufgestellt, aber auch die Lösungen genutzt, die wir schon im Vorfeld entwickelt haben - zum Beispiel flexible Arbeitszeiten. Was früher in einer Schicht erledigt wurde, wird jetzt auf zwei Schichten verteilt. So kann die Produktion der neuen Geräte weiterlaufen.
Welche praktischen Tipps haben Sie für andere Unternehmen und ihre Beschäftigten, um den Wandel der Arbeitswelt während der Pandemie und danach erfolgreich gestalten zu können?
Um zukunftsfähig und resilient zu bleiben, müssen Unternehmen und Belegschaften der Veränderung gegenüber offen sein. Es bringt nichts, schon im Vorfeld manche Erneuerungen aus Prinzip zu blockieren: Man muss erst einmal schauen, ob sie tatsächlich für den Betrieb von Vorteil sein könnten. Um sie erfolgreich umzusetzen, ist ein reger Austausch zwischen den Führungskräften, den Betriebsräten und den Beschäftigten notwendig. Und: Es lohnt sich, den Wandel generationenübergreifend zu gestalten. Wir müssen die älteren Menschen in neue Prozesse integrieren aber auch den jüngeren die Möglichkeit geben, sich zu entfalten und Veränderungen mitzugestalten.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Pern!