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Die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie treffen Frauen mit besonderer Härte: Ob im Dienstleistungssektor, im Gesundheitswesen oder im Homeoffice - Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf die Karrierechancen von Frauen aus? Und wie können Unternehmen Frauen fördern? Dr. Kira Marrs, Projektleiterin des INQA-Experimentierraums #WomenDigit, spricht im Interview über die Chancen(un)gleichheit in Zeiten von Corona.

Frau Marrs, würden Sie der These zustimmen, dass Frauen besonders stark von der Corona-Krise betroffen sind?

Ja, das würde ich. Die Pandemie hat Problemkonstellationen verdichtet in Bezug auf die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Während des Lockdowns haben viele im Tourismus und Gastgewerbe tätige Frauen ihre Arbeit verloren. Diese Jobs sind ohnehin schlechter bezahlt und bieten oftmals keine finanzielle Sicherheit. Darüber hinaus sind Frauen in systemrelevanten Berufen besonderen Belastungen und Gefahren ausgesetzt, allen voran im Gesundheitssystem und in der Pflege. Sie stehen an vorderster Front, ohne dafür gesellschaftliche Anerkennung in Form von höherem Entgelt oder besseren Arbeitsbedingungen zu bekommen. Und als der gesellschaftliche Betreuungsapparat im ersten Lockdown zusammengebrochen ist, haben Frauen die Hauptlast der Betreuungsarbeit und des Hausunterrichts übernommen. Seitdem diskutieren wir über ein neues Phänomen: Die Retraditionalisierung.

Die Krise hat ungelöste strukturelle Probleme wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht?

Richtig. Es sind eklatante Altlasten zum Vorschein gekommen, die sowohl mit dem Gender Care Gap als auch mit dem Gender Pay Gap zu tun haben. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat beispielsweise gezeigt, dass Paare, die vor der Krise häusliche Pflichten gleichmäßig aufgeteilt hatten, in der Krisensituation zu traditionellen Mustern zurückgekehrt sind. Als Urlaubszeiten und Überstunden aufgebraucht waren, haben in den meisten Fällen die Frauen ihre Arbeitszeit reduziert und die unbezahlte Mehrarbeit zu Hause übernommen. Dies war oft finanziell bedingt: Viele Familien können einfach auf das höhere Einkommen des Mannes nicht verzichten. Die ungleiche Einkommensverteilung zwischen Frau und Mann ist in Deutschland nach wie vor ein großes Problem. Und die Pandemie hat diese Ungleichheit zusätzlich verschärft.

Andererseits hat die Pandemie den digitalen Fortschritt beschleunigt. Kann diese Entwicklung Frauen helfen?

Es stimmt. Corona wirkt wie ein Katalysator für eine gesellschaftliche Digitalisierung. Das wird am Thema Homeoffice besonders deutlich. Eine Rückkehr zu unseren alten Präsenzkulturen kann man sich fast nicht mehr vorstellen. Die Frage ist jetzt, wie können wir diesen Umbruch im Sinne der Frauen proaktiv gestalten? Das schaffen wir nur, wenn wir vor allen die digitale Transformation mit Blick auf die Entwicklungschancen von Frauen genau unter die Lupe zu nehmen. Wir brauchen eine differenzierte Betrachtung und müssen die Chancen nutzen, die Risiken aber verhindern.

Was sind hier die Vor- und Nachteile?

Einerseits ermöglicht die Umstellung auf Homeoffice mehr individuelle Zeitsouveränität und Flexibilität. Wichtig für Frauen ist auch das Aufbrechen der Präsenzkultur, die häufig gerade für Frauen in Teilzeit eine Barriere darstellt.

Überlastungen, Vereinsamung oder Probleme mit der IT-Sicherheit sind nur einige der Probleme. Gerade während des ersten Lockdowns wurde deutlich, wie Homeoffice den sozialen Raum von Familien verdichtet. Haushalt, Betreuung und Hausunterricht müssen neben anstrengender, oft herausfordernder Arbeit bewältigt werden, und zwar am selben Ort. Wir wissen auch dass Homeoffice und Kinderbetreuung kaum vereinbar sind. Das führt zu Interessenskonflikten in den Familien. Homeoffice ist also weit davon entfernt, das neue Normal zu sein.

Was können Unternehmen für die Beschäftigten im Homeoffice tun?

Wenn wir davon ausgehen, dass wir Neuland gestalten müssen, dann reicht es nicht aus, sich nur Gedanken über die Gestaltung von Homeoffice zu machen, über die technische Ausstattung oder Remote-Führung. Wir müssen weiterdenken. Perspektivisch werden neue Hybridmodelle entstehen, die im besten Fall die Vorteile des Digitalen und Analogen zusammenbringen. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass dies kein Selbstläufer ist, sondern einen grundlegenden Umstellungsprozess in den Unternehmen voraussetzt. Der virtuelle Raum ist ja nicht bloß eine Erweiterung des bekannten analogen Raumes. Wir müssen am analogen Raum selbst ansetzen und ihn umstrukturieren, zum Beispiel mit Blick auf die Raumsituation, die technische Ausstattung oder die Nutzung der Arbeitsmittel. Erst dann können wir den virtuellen Raum erfolgreich in ein analoges Szenario integrieren. Die Unternehmen müssen für eine Kultur sorgen, die alle integriert, Homeoffice positiv konnotiert und allen gleichberechtigten Zugang zu Informationen verschafft – unabhängig davon, wo sie gerade arbeiten. Wir müssen aufpassen, dass die, die zu Hause bleiben, keine Beschäftigten zweiter Klasse werden. Das ist ein Aspekt, der besonders für Frauen und ihre Aufstiegsmöglichkeiten wichtig ist.

Ohne eine solche, dauerhaft implementierte Kultur droht das Hybridmodell schnell wieder zum Präsenzmodell zu degenerieren.

Sie leiten den INQA-Experimentierraum #WomenDigit. Konnten Sie Ihre Arbeit auch zu Corona-Zeiten fortsetzen?

Wir arbeiten in unserem Projekt sehr eng mit den beteiligten Unternehmen zusammen, oft direkt vor Ort. Aus diesem Grund waren wir im ersten Moment sehr stark betroffen von den Einschränkungen, die die Pandemie mit sich gebracht hat. Gleichzeitig haben wir die einmalige Gelegenheit genutzt, die rapiden Transformationsprozesse innerhalb der Unternehmen zu begleiten und die Chancen und Risiken analysiert, die diese präzedenzlose Situation mit sich bringt. Die zentralen Fragen waren dabei: Was sind die Arbeitsmodelle der Zukunft? Was können wir aus 2020 lernen? Wie sollen wir die Zukunft in Unternehmen gestalten?

Was waren Ihre Ergebnisse?

Die Corona-Krise ist für viele Unternehmen zum Sprungbrett in die digitale Zukunft geworden.

Sie wurden gezwungen, ihre Prozesse zu digitalisieren, mit Homeoffice und Remote-Arbeiten ohne Vorbereitungszeit neue Raum-Zeit-Konzepte zu realisieren sowie Führung und Zusammenarbeit im virtuellen Raum neu zu organisieren. Dadurch haben sich die Unternehmen in einer extrem kurzen Zeitspanne grundlegend verändert. Es sind neue Möglichkeiten erschlossen und Erwartungshaltungen geweckt worden, die auch nach dem Ende der Pandemie ein einfaches Zurückgleiten in den vorherigen Zustand ausschließen. Die Wirklichkeit in den Unternehmen hat sich unwiederbringlich verändert.

Was haben sie speziell zu Homeoffice und Remote-Arbeiten herausgefunden?

Beschäftigte und Führungskräfte konnten in einer sehr kurzen Zeitspanne Erfahrungen machen, für die man ansonsten Jahre gebraucht hätte. Die für viele überraschende Erkenntnis lautet „Remote ist alles möglich“. Gleichzeitig sehen wir, dass nicht alles gleichermaßen gut für Remotearbeiten geeignet ist. Der virtuelle Raum ist reduziert auf verbale und, im günstigsten Fall, noch visuelle Kommunikation. Soziale Interaktion kann hier nur begrenzt stattfinden. Fast die gesamte informelle Kommunikation bricht online weg. Ob jemand zum Beispiel etwas verstanden hat oder einer Entscheidung zustimmt, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich oder erkennbar. Wir müssen dort alles explizieren oder verbalisieren. Das macht Kommunikation anstrengender und voraussetzungsvoller. Mit der Umstellung auf virtuelles Arbeiten fällt der Betrieb als Ort der Begegnung weg - zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden, aber auch der Beschäftigten untereinander. Das löst die Fundamente auf, die das tradierte Führungs- und Mitarbeiterverständnis getragen haben.

Außerdem weckt die anhaltende Corona-Krise neue Erwartungen bei Führungskräften und Mitarbeitenden. Selbst Menschen, die dem Homeoffice bislang skeptisch gegenüberstanden, haben die Vorteile nun für sich entdeckt. Und sie erwarten von ihren Unternehmen auch für die Zukunft großzügige Homeoffice-Regelungen.

Bedeutet dieser kulturelle und strukturelle Wandel, dass Führungspositionen für Frauen attraktiver werden?

Davon gehe ich aus. Das neue Führungsverständnis, das ich eben skizziert habe, aber auch Skills wie proaktive Kommunikation, das Teilen von Wissen und Transparenz, kommen Frauen entgegen. Ich glaube also, dass in Zukunft tatsächlich mehr Frauen Führungspositionen bekleiden werden. In der vernetzten, kollaborativen Arbeitswelt von heute steht vor allem das Team im Fokus, denn die komplexen Transformationsprozesse erfordern eine starke Beteiligung der Beschäftigten. Und in der Regel finden Frauen dieses team-basierte Arbeiten viel attraktiver.

Der Wandel der Unternehmenskultur könnte durchaus bedeuten, dass mehr Frauen Führungsrollen übernehmen. Und wie sehen immer mehr Unternehmen, die großes Interesse haben an Maßnahmen, die Frauen voranbringen.

Viele Frauen sind mit der Sorge- und Betreuungsarbeit belastet. Haben sie überhaupt Zeit, Führungspositionen einzunehmen?

Tatsächlich leisten Frauen in Deutschland den überwiegenden Teil der Sorgearbeit. Auch dieses Thema wurde aufgrund der Pandemie sehr stark in der Öffentlichkeit diskutiert. Aber wir wissen noch nicht, ob sich diese Situation ändern wird. Denn die Probleme von Frauen sind nicht neu. Die sogenannte gläserne Decke, die ungleiche Verteilung der Arbeit im Haushalt, die Gehaltslücke: Darüber wird seit Jahrzehnten diskutiert. Es ist entscheidend, dass wir diese gesellschaftliche Zäsur nutzen, um eine neue Zukunft zu verhandeln, in der mehr Gleichheit herrscht. Denn Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist keine Frauensache, sondern ein geschlechterübergreifendes Thema. Unternehmen tragen eine soziale Verantwortung und können diesen Wandel aktiv mitgestalten.

Was können Unternehmen konkret tun?

Unternehmen müssen Digitalisierung und Gendergerechtigkeit zusammendenken, um die Chancen, die durch neue Führungsrollen und die neue Bedeutung von Kommunikation, Teamarbeit und Vernetzung entstehen, gleich von Beginn an so auszubauen, dass sie eine gendergerechte Arbeitswelt ermöglichen. Dies kann nicht über die Köpfe der Beschäftigten hinweg passieren.

Unternehmen müssen sicherstellen, dass Frauen keine beruflichen Nachteile aufgrund der zusätzlichen Belastungen in der Pandemie erleben. Ich empfehle:

  • Frauen sollen ohne jede Hürde ihre Arbeitszeiten wieder aufstocken können.
  • Die Leistung während der Pandemie sollte keine Rolle für die Karriereentwicklung spielen.
  • Frauen sollten gleichen Zugang zu Weiterbildung und Qualifizierung haben.
  • Die Sichtbarkeit von Frauen muss erhöht werden, auch im Homeoffice.
  • Die Unternehmen müssen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen und Kinderbetreuung anbieten.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Marrs!

Dr. Kira Marrs forscht am ISF München zur Zukunft der Arbeit und der Gesellschaft und richtet ihren Fokus auf die Förderung der Entwicklungschancen und Karrieren von Frauen in der digitalen Transformation. Als eine der führenden Expertinnen auf diesem Gebiet setzt sie sich für eine neue, gendergerechte Arbeitswelt ein und gestaltet diese aktiv mit. Sie leitet den INQA-Experimentierraum #WomenDigit. 2019 erhielt sie für ihre Forschungsarbeit und ihr Engagement den „25-Frauen-Award für Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft verändern“.

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