Immer mehr Unternehmen lösen sich von klassischen formellen Führungsstrukturen. Sie verteilen z. B. Entscheidungen auf einen ganzen Personenkreis und machen Entscheidungsprozesse transparenter für die Mitarbeiter*innen. Das fördert zwar die Mitarbeitermotivation, bringt aber auch Fallstricke mit sich, etwa wenn es darum geht, zu verbindlichen Entscheidungen zu kommen. Welche hilfreichen Methoden hierfür eingesetzt werden, zeigen zwei Beispiele aus der Praxis: das Ingenieurbüro hhpberlin und das Softwareunternehmen Seibert Media.
hhpberlin: eine Führungskultur, die auf Freiraum baut
Beim Dienstleister für Brandschutzlösungen hhpberlin lautet das Motto: „So viel Struktur wie nötig, so viel Freiraum wie möglich.“ Vor über zehn Jahren wurde im Unternehmen das sogenannte LOAZ-Modell eingeführt – ein selbst entwickeltes mitarbeiter- und themenorientiertes Organisationsmodell. Seitdem gibt es keine starren Hierarchien mehr. Das Ingenieurbüro setzt stattdessen auf agile Formen der Zusammenarbeit und eine themenorientierte Führung. Dem LOAZ-Organismus liegt die Prämisse zugrunde, dass keine Person alleine ein Team gut leiten kann, da sie nie alle relevanten Fähigkeiten in sich vereint. Für die Mitarbeiter*innen bedeutet das ein hohes Maß an Eigenverantwortung, aber auch die Möglichkeit, das Unternehmen direkt mitzugestalten. Dadurch gewinnt hhpberlin Fachkräfte, die sich einbringen und gefördert werden. Zudem wird die Mitarbeiterbindung ans Unternehmen gesteigert.
Neue Führungskultur: Diese Elemente zeichnen das LOAZ-Modell bei hhpberlin aus
LOAZ steht für: (L)eute begeistern können, (o)rganisieren können, (A)lternativen aufzeigen können und (z)uhören können. Das spiegelt sich in der Arbeitsweise und der Zusammenstellung von Aufgaben und Teams bei hhpberlin wie folgt wider:
Mitarbeiter*innen können mit ihren Fähigkeiten bei einem bestimmten Thema führend sein und sich gleichzeitig in einem anderen Themenfeld führen lassen. Schließlich sind Kompetenzen unterschiedlich ausgeprägt.
Findet ein*e Kolleg*in ein neues Thema relevant für das Unternehmen, übernimmt diese Person die Führungsrolle bei diesem Thema und ist für die Umsetzung verantwortlich. Unterstützt wird die Führungsperson dabei von Kolleg*innen, die das Thema ebenfalls wichtig finden.
Vielfalt ist ein Muss: Die Teams werden gemischt hinsichtlich Geschlecht, Altersstruktur, Erfahrungsstufen und LOAZ-Eigenschaften für eine Zusammenarbeit aufgestellt. Jedes Projektteam besteht aus fünf bis acht Mitarbeiter*innen.
Alle sechs Wochen treffen sich die gewählten Vertreter*innen aller Teams mit der Geschäftsführung in der „Prozess-Steuerungs-Gruppe“. Hier werden Themen diskutiert, die die Entwicklung der Unternehmenskultur betreffen. Die Gruppe dient als Feedbackrunde und Ideenwerkstatt und priorisiert die nächsten Schritte.
Hierarchiefreie Führungskultur bei Seibert Media
Bereits seit einigen Jahren wird im Softwareunternehmen Seibert Media agil und hierarchiefrei gearbeitet. Ausgehend von einem kleinen Pilotprojekt, in dem der agile Ansatz erprobt wurde, folgte die umfassende Umstrukturierung des gesamten Unternehmens. Heute arbeiten alle der rund 140 Angestellten komplett ohne formelle Hierarchien in interdisziplinären Teams zusammen. Jedes Team verfügt über das notwendige Know-how und die personellen Ressourcen, seine Aufgaben eigenständig und selbstorganisiert bearbeiten zu können. Das Unternehmen vertraut und baut darauf, dass sich Führung und Entscheidungskompetenz je nach Aufgabenstellung aus der Expertise der fachlich spezialisierten Teammitglieder ergeben. Die Mitarbeiter*innen werden dabei neben der Produktentwicklung auch an der Gestaltung der Unternehmensausrichtung wie z. B. an der strategischen Planung umfassend beteiligt.
Diese 6 Tools ermöglichen die hierarchiefreie Führungskultur
Zentrale Herausforderungen im Unternehmen sind der Entscheidungsfindungsprozess und die Mitarbeitermotivation. Wie kommt man zu Entscheidungen? Und wie kann man die Kreativität der Beschäftigten fördern und nutzen? Seibert Media setzt auf die folgenden Tools.
Als Lösung dafür hat die Firma ein digitales schwarzes Brett, das sogenannte „Wer darf was?“-Board, eingeführt. Es regelt Verantwortlichkeiten und zeigt, wer in einem Projekt berät und wer entscheidet.
Strategische Entscheidungen werden im Konsent getroffen. Das bedeutet, sofern keine schwerwiegenden Einwände vorliegen, einigt man sich auf diese Entscheidung. Bei speziellen Fragestellungen wird auch auf das systemische Konsensieren zurückgegriffen. Dabei entscheidet sich die Gruppe für die Option mit der geringsten Ablehnung.
Darüber hinaus nutzt das Unternehmen den konsultativen Gruppenentscheid: Es entscheiden nicht mehr alle, sondern nur noch ein ausgewählter Kreis von maximal fünf Personen. Dieser wird im Vorfeld der Abstimmung von allen Anwesenden demokratisch gewählt.
Beim Gehalt bestimmt ein sogenannter „Gehaltscheckerkreis“ die Vergütung. Die Vertreter*innen im Kreis werden dabei von ihren Kolleg*innen gewählt. Gemeinsam trifft der Kreis in themenspezifischen Gruppen, die für unterschiedliche Positionen und Funktionen zuständig sind, eine faire Entscheidung über die Vergütung eines Jahres.
Die Mitarbeiter*innen nutzen ein internes Wiki sowie einen darin integrierten Mikroblog zum Teilen und Diskutieren von Ideen, um das Unternehmen weiter zu optimieren. So können die Beschäftigten das Unternehmen aktiv mitgestalten. Die entstandenen Ideen werden in einem wöchentlichen Meeting eingebracht.
Zweimal jährlich experimentieren die Mitarbeiter*innen des Softwareunternehmens in Hackathons. Ziel ist es, in kleinen Teams nützliche und kreative Softwareprototypen zu entwickeln. Die Themen bestimmen die Teilnehmer*innen.